Ich weiß gar nicht genau, wo ich anfangen soll. Am Wochenende hatten wir einen Workshop mit den Dreamcatchern, hauptsächlich denen, die in Deutschland waren. In diesem Workshop sollten sie neuen (theoretischen) Input und somit eine weitere Sicherheit als Kursleitung bekommen und die Möglichkeit haben, sich über den geplanten Verein in Indien auszutauschen. Zudem hatte jeder die Aufgabe, ein Theater-Solo zu entwickeln und zu präsentieren. Denn wer eine Theatergruppe anleiten möchte, sollte auch selbst Spielerfahrung haben. In diesen Tage habe ich – auch durch die Solostücke – sehr viel über die Lebensumstände der Dreamcatcher erfahren, hatte Gespräche über Traditionen und aktuelle problematische Situationen. Wenn wir als Gruppe zusammen sind, Theater spielen und eine gute Zeit miteinander verbringen, sind wir alle auf einer Ebene und es fällt mir sehr schwer, vorzustellen, dass die Dreamcatcher in einer völlig anderen Kultur leben. Die Themen, mit welchen ich an diesem Wochenende konfrontiert wurde und mich sehr beschäftigten, waren das Dowry-System (Heirat und Mitgift), der Wunsch zur Schule gehen zu können, Armut, Familienverpflichtungen, Dorftratsch und (verlorenes) Ansehen, Polizeigewalt, persönliche Geschichten, das indische Zeitgefühl und einiges mehr. Somit stand für mich an diesem Wochenende viel weniger das Theater als die indische Kultur im Vordergrund. Aber wenn man es genau nimmt, habe ich in viele Bereiche der indischen Kultur durch das Theaterspiel Einblick erhalten können. In Indien werden die Ehepartner immer noch in den meisten Fällen von den Eltern ausgesucht und auch wenn der Partner selbst gewählt wurde haben die Eltern ein Vetorecht, denn Eltern bleiben Eltern, egal wie alt das Kind ist. Häufig werden die Partner schon in sehr jungen Jahren gewählt und sogar schon Kinder verheiratet. Vor der Eheschließung ist es üblich, dass der zukünftige Ehemann mit seinen Eltern von den Eltern der Ausgewählten eingeladen wird um einen Tee zu trinken. Die zukünftige Braut kommt nur für kurze Zeit dazu und somit ist kaum Raum für ein ungezwungenes Kennenlernen vorhanden. In Anwesenheit einer Anstandsdame darf sich das zukünftige Ehepaar noch einmal für kurze Zeit unterhalten. Die Eltern wählen den geeigneten Partner bzw. geeignete Partnerin für ihr Kind aus, da doch niemand anderes als die liebende Mutter weiß, was/wer gut für ihren Sohn/ihre Tochter ist. Vor einigen Jahren noch war es wohl üblich, dass das frisch vermählte Ehepaar fünf Tage nach der Hochzeit miteinander verbringen durfte, um sich anschließend drei Jahre lang nicht zu sehen und erst dann zusammen zu ziehen. Warum dies so war, konnte mir jedoch nicht beantwortet werden. Außerdem darf die Frau dann erst einmal für drei Monate das Haus nicht verlassen, denn sie ist ja für dieses zuständig. Desweitern müssen die Eltern der Frau Mitgift zahlen. Ist der Vater jedoch nicht mehr am Leben, muss der (älteste) Sohn dafür aufkommen. Für Familien mit fünf Töchtern ist dies eine sehr große Bürde. Dann ist es natürlich umso wichtiger, dass die Töchter ein gutes Ansehen im gesellschaftlichen Umfeld genießen. Dazu zählt auch, dass sie keinen (engeren) Kontakt zum anderen Geschlecht haben dürfen. In Indischen Dörfern wohnen die Menschen sehr dicht aneinander und es wird sehr viel getratscht. Aus diesem Grund war es nicht klar, ob ein Mädchen der Dreamcatcher zum Workshop kommen durfte. Da sie auf der Deutschlandtournee dabei war, wird im Dorf sehr viel getuschelt, gemunkelt und geneidet. Somit ging es ihrem Vater wohl vor allem darum, dass nicht noch mehr getratscht wird. Doch nach einer langen Diskussion gelang es Wolfi, dass sie doch noch am Workshop teilnehmen durfte. In ihrem Solo zeigte sie ihre Abneigung gegen das Dowry-System, fremdbestimmt zu sein und den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Des Weiteren wurde auch in anderen Solostücken sehr deutlich, dass es ein großer Wunsch der Kinder, bzw. Jugendlichen ist, zur Schule gehen zu können und dass sie glücklich darüber sind, dass ihnen dies möglich ist. Das ist in Indien nicht selbstverständlich, denn in vielen ärmeren Familien müssen die Kinder helfen, Geld zu verdienen und sich um ihre Geschwister kümmern. Viele Kinder gehen betteln. Das ist immer eine sehr schwierige Situation, denn auf der einen Seite möchte man ihnen helfen, auf der anderen Seite dürfen sie aber auch nicht zur Schule gehen, da sie durch Betteln in manchen Fällen mehr einnehmen, als ihre Eltern verdienen. Die Familie gehört in Indien zusammen und das Ansehen der ganzen Familie hängt von jedem einzelnen ab. So kann es durchaus vorkommen, dass ein Familienmitglied verprügelt wird, weil ein anderes sich nicht richtig verhalten hat. Apropos verprügeln… Einer der Dreamcatcher kam einige Stunden zu spät zum Workshop, weil er ohne Führerschein und Helm mit zwei anderen auf dem Motorrad gefahren ist und von der Polizei erwischt wurde. Diese verlangten nicht nur Bakschisch (Schmiergeld) von ihm, sondern prügelten ihn und nahmen ihn für einige Stunden (bis er das Schmiergeld organisiert hatte) fest. Natürlich darf man auch in Indien nicht ohne Führerschein etc. fahren, aber auf der anderen Seite scheint dies hier normal zu sein – ebenso wie ohne Helm und mit zu vielen Menschen oder sperrigen Gegenständen Motorbike zu fahren. By the way – um einen Führerschein zu erhalten, reicht es einfach genügend Bakschisch zu zahlen…
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