Mal wieder ein paar Worte aus dem bunten Indien. Jeden Tag passiert so viel, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Also beginne ich erst einmal im "Jetzt": Heute ist Holi. Das Ende des Winters und der Beginn des Frühlings wird mit buntem Farbpulver gefeiert. Keiner bleibt verschont: sobald man die Straße betritt, wird man Zielscheibe von farbgefüllten Spritzpistolen der Kinder oder die Wangen werden einem rechts und links mit grell buntem Pulver bestrichen. Auf den Straßen ertönt ein Bass, der meist noch aus dem Originalkarton verpackten Lautsprechern kommt und überall hört man Leute „happy holi“ rufen.
Die nächsten Tage scheinen alle Schranken der Schichtzugehörigkeit aufgehoben. Überall herrscht eine freudige Stimmung und uns werden die Türen der Häuser geöffnet – für mich ist es eine Besonderheit, zu sehen, wie unterschiedlich und unter welch einfachen Bedingungen die Meisten hier so leben. Wir werden von den Familien unserer Spieler zum Chai trinken und Süßigkeiten essen eingeladen und bekommen natürlich jedes Mal wieder eine große Ladung Farbe ins Gesicht gestreut, so dass wir, nachdem wir 8 Stunden von einem Haus zum anderen gezogen sind, nicht nur von Kopf bis Fuß schichtenweise Farbpulver in allen Farben tragen, sondern unsere Bäuche auch einen Zuckerschock haben, von all den indischen Spezialitäten, die man aus Höflichkeit bei jeder Familie immer brav isst ;) Eingeläutet wurde das dreitägige Fest mit einem 12m hohen Lagerfeuer, das die letzten Tage immer höher aufgebaut wurde mit allerlei Sachen, die man hier so findet: von Palmwedeln über Bambusstangen bis hin zu alten Saris - nur kein richtiges Holz, denn das ist rar in dieser Gegend. Bihar war früher ein Staat, der dicht von Dschungel besiedelt war und so einen Lebensraum für unzählige Elephanten bot, doch mit dem Verschwinden der Wälder wurden auch die Tiere weniger. Heute hat das hier käufliche importierte Holz einen stolzen Preis, was wir auch selber bei unserem Ausbau des Theatersaals erfahren.
Im Creacting Centre hat sich nämlich viel getan in den letzten 14 Tagen: während tagsüber unsere Intensiv-Workshopreihe stattfand, wurde meist in Abend- und Nachtaktionen am Saal gearbeitet. Die Wände des Bühnenbereiches wurden schwarz gestrichen, unzählige Löcher in die Wand gebohrt, um Vorhänge für eine bessere Akkustik aufzuhängen. Elektrik wurde verlegt, ein festes Lichtsystem installiert und eine große, stabile Holzbühne haben wir schreinern lassen.
Der anfangs leere Raum ist nun echt in ein kleines Theater verwandelt worden und ist das erste Theater in Bodhgaya und Umgebung, das Platz für ca. 90 Zuschauer bietet (wenn man unter indischen Verhältnissen sitzt ;) ) Ja, dass so einiges hier anders abläuft, als im geregelten Deutschland, kreatives Denken erfordert und so manche Nerven kosten kann, kann sich wahrscheinlich der ein oder andere denken. Sei es eine Decke streichen, indem man wackelige Plastikstühle auf einen ebenso wackeligen Tisch stapelt, um so ohne Leiter die Farbe irgendwie an die Wand zu pinseln oder dass der Schreiner mehrmals eine Chaipause machen muss, weil alle 10 Minuten der Strom ausfällt und man ihn dann motivieren muss, die Zeit in der es Strom gibt, effektiv zum Sägen zu nutzen.
Auch bei den Workshops haben wir es immer wieder mit Ausfällen zu tun. Spieler kommen und gehen und fordern Flexibilität bei der Gestaltung der Szenen heraus. Dieses Jahr fällt unsere Theaterzeit nämlich ausgerechnet in die Prüfungszeit der meisten Spieler und so erfodert es Koordinationskünste, überhaupt einen Kursplan zu erstellen, an dem die Mehrheit der Spieler auch anwesend sein kann. Auch das eine indische Entscheidung nie eine Endgültige ist, muss ich immer wieder mit einem Schmunzeln feststellen. Denn oftmals lautet hier das Motto: "Komm ich heut nicht, komm ich morgen", d.h. alles kann von einem Moment zum Anderen schon wieder ganz anders aussehen. Das ist ein bisschen, wie mit dem Handeln auf dem Markt. Der Verkäufer sagt seinen letzten Preis, der einem immer noch zu viel ist, man daraufhin wegläuft und kaum ist man ein paar Meter weiter gegangen, wird hinterher gerufen und man kriegt es doch einen ganzen Bruchteil weniger J.
Ja, man passt sich hier dem "indian flow" an und wenn die Examen der Schüler mal wieder spontan verschoben werden, nutzen wir die Zeit und machen einen Workshop in der kleinen Azoraschule. Auf geht es, wie so oft, zu dritt mit flatterndem Haar und mit Musikbox unterm Arm auf einem Motorrad über die Brücke des ausgetrockneten Flussbettes, auf die andere Seite in eines der kleinen Dörfer, in dem das Schulgebäude der Azoraschule steht. In Deutschland würde man denken: "Nun ja, der Trockenbau steht gerade und nun kann der Ausbau beginnen" - hier ist es jedoch mit dem Wände ziehen und Flachdach bauen oftmals schon getan. Für Putz, Mobiliar wie Tische und Stühle, reicht oft das Geld nicht. Man ist überhaupt froh, ein Gebäude mit richtigen Steinen und separaten Klassenräumen zu haben. So bieten 4 Klassenzimmer, die nur mit einem durchgesessenen Teppich und einer einfachen Tafel ausgestattet sind, für 120 Kinder einen Zugang zu freier Bildung. Auch 5 Waisenkinder haben hier ein sicheres Zuhause. Einige unserer Spieler und Kursleiter sind selbst als Halbwaisen in der Azoraschool aufgewachsen und es ist auch die Schule, in der Wolfgang vor 11 Jahren den ersten Theaterworkshop anbot. Somit wurde hier der Grundstein des Indienprojekts gelegt und es besteht weiterhin eine enge Verbindung zu diesem Ort.
Sobald wir die Musikbox angeschmissen haben und laute Bollywoodklänge ertönen, sind nicht nur die zum Workshop versammelten Kinder gespannt darauf, was für Bewegungen Abhi, unser Tanzlehrer, ihnen zeigen wird, sondern auch unzählige andere Kinder kommen aus dem Dorf, stehen hälsereckend an der Türe oder spähen neugierig von draußen durch die Gitterstäbe der Fenster. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie man mit ein paar einfach Spielen und Tänzen, die keinerlei Material benötigen, die Kinder in den Bann ziehen kann und ihnen kreativen Ausdruck ermöglichen. Denn künstlerische Fächer haben in dem sonst streng nach Buch getakteten Lehrplan, der voll von Mathe, Naturwissenschaften und Hindi ist, keinen Platz. Umso schöner ist es zu sehen, wie sich die Kinder mühelos in Tiere verwandeln oder zu unterschiedlicher Musik von der einen Emotion in die andere wechseln und danach nicht nur von Außen, sondern auch von Innen heraus, strahlen.
Auch das Creacting Culture Centre bekommt jeden Tag mehr Glanz: unsere Workshops können wir nun auf der fertig geschreinerten Bühne machen und es ist schön zu sehen, wie auch die Spieler tatkräftig anpacken. Oftmals sind wir dann alle gemeinsam bis spät in die Nacht beschäftigt, sägen Metallstangen für Vorhänge mit kleinen Sägeblättern von Hand , malen das Creacting India Logo an die Wand, stellen uns Herausforderungen wie z.B stundenlang einen Bühnenboden mit einem Kleber zu kleben, der sich einfach nicht verteilen lassen will und der Boden im Endergebnis wellig ist, so dass man ihn danach komplett wieder entfernen muss.
Je intensiver und zeitaufwändiger, meist von 10 – 19h, die Workshops werden, desto mehr der Jugendlichen übernachten in der Halle. Da liegen sie dann auf zwei Matten und zu fünft eng einander gedrückt unter einem Moskitonetz und wir als Deutsche mit dem Bedürfnis nach Platz und Privatsphäre können manchmal nur faszinierend den Kopf schütteln. Wir rufen uns dann ins Gedächtnis, dass der Inder auch einfach nicht gerne alleine ist und auch wir merken: in Indien ist man nie allein. Sitzt man mal mit der Intention, ein bisschen Zeit für sich zu haben und die Ruhe zu genießen, am Feuer, so dauert es keine 20 Sekunden und man ist umringt von neugierigen Menschen, die einem Gesellschaft leisten wollen. Ja, ohne seine Sippe ist man hier Nichts. Familie haben hat eine ganz andere Bedeutung in Indien als in Deutschland, denn sie gibt dir nicht nur Halt, sondern deine Kinder bzw. die Stieftochter ist auch deine Lebensversicherung fürs Alter, da du von ihnen umsorgt und gepflegt wirst. Dass die Rolle der Frau, abgesehen von den Großstädten, auch noch sehr traditionell ist, merken wir auch bei unserem Projekt. Immer wieder müssen wir um die Mädchen kämpfen, damit sie auch regelmäßig kommen dürfen. Meist sollen die Mädchen der Mutter im Haushalt helfen oder sich auf die Schule konzentrieren, während die Jungs frei in ihrer Freizeitgestaltung sind. Nicht nur einmal fährt Wolfgang oder Christian dann zu den Eltern, redet mit ihnen und muss ggf. manchmal auch noch die Erlaubnis des großen Bruders einholen, damit die Tochter, der das Theater spielen so viel Freude macht, weiterhin kommen kann.
Ja, ein Theaterprojekt durchzuführen erfordert "allround-skills", wie ich merke und dieses Jahr sind es gleich zwei Projekte: der Ausbau des Theatersaals und das Entwickeln einer Show…und eins kann ich euch verraten: Sie wird magisch!