Der so eingespielte Alltag wurde nun vollkommen über den Haufen geworfen. Wir hatten einen Marathon an Workshops. Einen Tag Theaterworkshop, den nächsten Klimaworkshop, dann Theater in verschiedenen Schulen in der Umgebung, wieder Klimaarbeit und zum Abschluss ein Theaterworkshop nur für Frauen unter Antonias Leitung. Eine intensive Woche mit unterschiedlichen Highlights.
Ich habe Vinod zu zwei Theaterworkshops mit Kindern in Schulen begleitet. Eine ganz neue, andere Atmosphäre. Beide Workshops hatten eher etwas von gruppendynamischen Übungen als von „richtigem“ Theaterspiel, was mich jedoch überhaupt nicht gestört hat.
Es war ein wunderbares Gefühl von knapp 25 8-14 jährigen Kindern umringt zu sein (kaum eines von ihnen sprach Englisch). Trotzdem habe ich diese Verbundenheit über die Bewegung, über die gemeinsame Aktion, über das Zusammensein gespürt. Der Zweite der beiden Workshops fand in der Aozora School statt. Da Vinod dort Englischlehrer ist, war keine all zu große Kontaktscheu der Kinder vorhanden. Es entstand ein lebhafter Austausch der Kulturen zwischen Ina, Madita und mir einerseits und quirligen jungen Menschen auf der anderen Seite, die wissbegierig zu uns aufschauten.
Während dieses Workshops hatte ich einen sehr persönlichen besonderen Moment mit einem ungefähr 9 jährigen, zarten, bestimmt vier Köpfe kleineren Mädchen. Vinod gab uns allen die Aufgabe sich zu zweit zusammen zu begeben und zu Musik die Bewegung des jeweiligen Partners zu spiegeln. Dadurch entstand die Szenerie, dass ich auf dem Rooftop der Aozora School, in vollem Sonnenschein, inmitten von 20 lebhaften Kindern einen stummen, besinnlichen und wunderschönen Moment mit diesem jungen Mädchen erlebte. Wir konzentrierten uns beide vollkommen auf die Bewegung des jeweils Anderen. Ich spürte ihren fokussierten Blick auf mir und genoss zu sehen, wie ihre Augen dabei leuchteten. Ihre Körperführung war so zart, doch gezielt. Sie folgte mir nicht und ich folgte ihr auch nicht, es war eher wie ein gemeinsamer langsamer, ruhiger Tanz. Diese Begegnung hat bei mir eine tiefe Zufriedenheit hinterlassen. Manchmal entsteht in all dem ganzen lauten, vollen, hektischen indischen Alltag ein Moment des Friedens und der Ruhe.
Der gesamte Workshop war für mich wunderbar. Der Abschluss mit all den Kindern war, dass wir zusammen in einem Klassenraum zu lauter indischer Musik frei getanzt haben. Auch das ein lebendiger, herzlicher Austausch über Bewegung und vor allem übers gemeinsame Lachen.
Nach den vielen Workshops war aber nicht an Ruhe zu denken. Die Dreharbeiten begannen direkt am nächsten Tag. Wir fuhren mit Bikes und Rikshas eine Stunde lang durch das wirkliche ländliche indische Leben zu einem Berg auf dem wir shooten wollten. Nach kleinen Rückschlägen, wie fehlenden Musikboxen, schafften wir es nach einer kleinen Kletterpartie mit Affenbegegnungen auf den Berg hinauf. Dort waren wir der blanken Sonne und einem uneben Untergrund ausgesetzt, der nicht gerade für Tänze gemacht war. Trotz der nicht optimalen Umstände entstanden tolle Aufnahmen, jedoch hatten wir durchgehend einen Zeitdruck im Nacken denn am Abend ging es für uns und die gesamte Gruppe mit dem Bus nach Kolkata.
Busfahren in Indien ist absolut nicht das Gleiche wie Busfahren in Deutschland: Erst einmal sieht der Bus anders aus. Es gibt zwei Sitzplätze auf jeder Seite, einen Gang in der Mitte und über den Sitzen sind Schlafkojen montiert, in denen zwei (oder mehr) Menschen problemlos Platz finden. Der gesamte Bus ist, nett ausgedrückt, etwas rustikal, denn es gibt eine Menge Eisengegenstände an denen man sich sehr gut jegliche Körperteile stoßen kann, was auch durchgehend passiert. Die indischen Straßen haben nämlich mehr was von Huggelpisten mit tiefen Abgründen zwischendurch, als von gut gepflasterten Wegen. Zudem weicht der große Bus auch recht ungern diesen Hindernissen aus. Es gibt nur eine Option: mitten durch. Daher braucht man für eine Busfahrt in Indien ein gutes Gleichgewichtsgefühl, schnelle Reaktion um sich zu beschützen und allgemein starke Nerven, um auf einer solchen Rumpelfahrt den Spaß daran nicht zu verlieren.
Trotz all diesen Strapazen hat Madita und mir diese 13 stündige Fahrt erstaunlich viel Spaß gemacht. Es entstand eine unerwartete Freude daran sich auf so engem Raum mit so vielen Menschen durchschütteln zu lassen.
Jedoch war jeder recht froh als wir alle mit müden Augen und schmerzenden Gliedern in Kolkata ankamen. Für mich fand der folgende Tag in Kolkata leider nicht wirklich statt, da mich eine Krankheit ziemlich ans Bett fesselte, aber die Anderen erlebten einen aufregenden Tag in der bunten, lauten, vollen Stadt.
Der Rest der Gruppe machte sich auf um unter dem angeblich größten Baum der Welt ein paar Szenen für unseren Film zu drehen. Dieser Plan wurde nach einer verwirrenden Fahrt im Taxi quer durch die Stadt zerstört, da sie keine Erlaubnis bekamen dort mit den Kameras und den Requisiten hinein zu gehen. Danach war die Stimmung eher geknickt, jedoch veränderte die abendliche Shoopingtour den allgemeinen Gemütszustand sehr. Die Jugendlichen warfen sich mit Ina und Madita alleine ins Getümmel und genossen die Masse an Möglichkeiten. Sie ließen sich einige Stunden treiben und kamen schließlich alle erschöpft, aber strahlend und zufrieden zurück ins Hotel, denn am nächsten Tag ging es schon wieder weiter ins nächste Abenteuer, das Meer.
Für einige der Jugendlichen war es das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie das Meer sahen. Wir standen alle um viertel nach fünf Uhr morgens auf, um vor Sonnenaufgang am Strand zu sein. Unser Plan war es dort in der Frühe mit aufgehender Sonne über dem Meer zu tanzen. Ich hätte niemals gedacht, dass sogar um kurz vor sechs Uhr morgens der Strand voller Inder sein kann. Dies war jedoch der Fall. Wir suchten uns eine freie Stelle direkt am Meer und begannen im Sand und im Wasser zu tanzen. Schnell bildete sich eine Gruppe von Zuschauern, aber das war nicht schlimm. Es war ein tolles Gefühl die Füße in den Sand zu graben und im Schein der langsam wärmenden Sonne mit allen zusammen zu tanzen. Eine neue wunderbare Erfahrung, die jegliche Anstrengungen der letzten Tage und der gesamten Reise für mich wegblies.
Diese Augenblicke am Strand waren für mich so gut wie der gesamte Inhalt der Reise, denn ein paar Stunden später saßen wir schon wieder in einem Van in Richtung Kolkata um dort sechs Stunden auf einen Bus zu warten, der dann 15 Stunden zurück nach Bodhgaya fuhr. Vier Tage, viele Stunden in Bussen, schwere Hindernisse, aber auch wunderbare Momente für die sich der gesamte Aufwand gelohnt hat. Vor allem war es mal toll etwas heraus zu kommen, eine andere Umgebung zu sehen und das indische Leben in einer weiteren Fassette zu erleben. Ebenso war es sehr schön mit der Gruppe dadurch noch enger zusammenzuwachsen, sich noch intensiver kennenzulernen und gemeinsam die Herausforderungen zu meistern.
Nun sind wir wieder für ein paar Tage hier, aber bei einem Blick auf unsere Pläne für die nächsten Tage wird die Zeit langsam wirklich knapp. Es stehen noch ein paar weitere kleine Reisen an, zwei Aufführungen der Show in unserer Theaterhall und abschließend der große Trip nach Bhopal - und dann war es das schon wieder. Eine unglaublich merkwürdige und ferne Vorstellung sich wieder auf den Weg nach Deutschland zu machen. Es zeigt mir aber nochmal mehr wie wichtig es ist jetzt hier Alles mitzunehmen, jeden Moment voll auszukosten und das Leben aufzusaugen.