Meine bevorstehende Indien-Reise konnte ich erst so richtig realisieren in dem Moment, wo sie eintrat. Denn so richtig einstellen auf das, was mich in den kommenden eineinhalb Monaten erwarten würde, konnte ich mich nicht. In meinem Kopf waren primär bürokratische Szenarien der Pandemie Einreise zu durchdenken gewesen. Die ständig wechselnden Bestimmungen zu Testpflicht, Aufenthalt und Quarantäne in Indien, die dank der Omikron Welle eine Zitterpartie waren, fielen erst ab als wir in Bhopal bei unserer Theatergruppe ankamen. Es sollte ein Eintauchen und Abtauchen in eine andere Wirklichkeit werden. Ein erstes Highlight war ein kurzes Rennen auf unseren Gepäcktrolleys durch den leeren Flughafen in Doha, gemeinsam mit meinen Reisekumpanen Wolfgang und Christian gewesen. Ich freute mich auf die bevorstehenden vier Wochen in Indien und die anschließenden zwei Wochen in Nepal. Für eine Weile dem Hamsterrad entfliehen, bestehend aus Corona News, den andauernden Regentagen in Hamburg und dem Alltagsleben.
Der Fokus unserer Indien-Reise war das Bhopal Projekt in Zentralindien, was seit eineinhalb Jahren von CreActing India mit der NGO Muskaan und mit ASHA in Frankfurt als Kooperationspartner durchgeführt wurde und jetzt in einer finalen Phase mit der Entwicklung einer eigenen Show abgeschlossen werden sollte. Das Wort „social distancing“ verschwand bereits an der Sicherheitskontrolle am Flughafen in Delhi, wo ich nebenbei auch lernte, dass man sein Gepäck nur durch die Kontrolle bringen konnte, wenn man sich in die Menschentraube stürzte, um eine Gepäckbox zu ergattern, ganz nach dem Prinzip „survival of the fittest“. Angekommen am kleinen Airport in Bhopal überkam mich die Müdigkeit nach den vielen Stunden im Flugzeug und den Transit-Aufenthalten in Delhi und Doha. Diese versuchte ich geschickt zu vertuschen, da mich unser Projektort in Bhopal erwartete und ich sehr gespannt auf den Empfang der bhopalischen Jugendlichen war, die bereits einen Tag früher angereist waren. Ich freute mich ein erstes Mal die indische Luft einzuatmen. Sie war sehr angenehm in diesem Augenblick. Als wir drei (Christian, Wolfgang und ich) aus dem Flughafengebäude hinausgingen begrüßte mich ein sonniges Indien mit einem angenehmen leichten Lüftchen.
Auf der kurzen Strecke zu unserem Projektort ganz in der Nähe des Flughafens, die wir in einem Taxi zurücklegten, überkam mich ein unbeschreiblich schönes Gefühl, eine Gefühl der Heimkehr. Ich erfuhr einen „Flash back“ zu meiner Zeit in Südostasien vor einigen Jahren. Die trockene, diesige Luft zeigte, dass es länger nicht geregnet hatte. Die Straßen waren voller Leben und an den großen Hauptstraßen, die zu und weg von Bhopals Zentrum - der Metropole mit über einer Million Einwohnern – führten, war ein reges Treiben zu beobachten. Die teils heruntergekommenen Gebäude waren mit Adivasi Kunst verziert und an den Straßenkreuzungen, an denen Abzweigungen in trockenes Land und in Industriegebiete an den Rand der Stadt führten, wurde frischer Chai aufgekocht und Streetfood frittiert. Wir nahmen eine dieser Abzweigungen und fuhren auf einen Hinterhof. Auf dem Gelände war ein Career College und ein verlassenes Schulgebäude, welches während unseres Aufenthaltes zumeist unbesucht blieb. Unsere Unterkunft war ein hellgelbes Gebäude mit einem zugänglichen Innenhof. Das Haus hatte einen kleinen Vorgarten und war in Richtung einer lebendigen und bunten Flora ausgerichtet. Ein sehr ruhiger Ort, an den ich mich sehr schnell gewöhnte. Der Baukomplex wurde zuvor bereits als Unterkunft für die Jugendlichen der Muskaan Organisation genutzt, welche hier eine Bleibe bekamen und Angebote erhielten um den prekären Bedingungen in den Bastis zu entkommen.
Als wir ankamen wurden wir sehr herzlich von der Bhopali – Gruppe empfangen. Die Gruppe empfing uns mit einem traditionellen Begrüßungslied aus einer der Bastis, uns wurden bunte Blumenketten angelegt und wir bekamen die Tikka Farbe auf unsere Stirn; des weiteren brannten Feuer Pujas und unsere Ankunft wurde von allen Seiten mit Handykameras festgehalten. Es war ein ganz besonderer Moment, da ich die Bräuche und Traditionen Indiens erleben und eintauchen konnte und in den kommenden Wochen noch viele solcher tiefen kulturellen Erfahrungen folgen würden. Gleichzeitig verspürte ich meine Müdigkeit und versuchte diese zu vertuschen. Wir teilten uns das Haus gemeinsam mit Abhishek, Vinod, der Gruppe und einem Koch und blieben weitestgehend für uns. Dies war ein großer Vorteil für den Entwicklungsprozess des Projektes. Im Projekt bot sich uns ein einfacher Wohnstandard, den wir aber recht zügig mit einigen Dingen wie Tische, Stühle, Wäscheleinen und Bettgestell aufpeppten. Als wir ankamen hatten wir lediglich einen dünnen Teppich und jeweils zwei Styropor Matratzen für den Boden zur Verfügung. Die NGO Muskaan war aber stets bemüht, uns Wünsche und Aufträge von den Lippen abzulesen, und unterstützte uns tatkräftig im Projekt. Ich hatte derweil keine Ansprüche an meine Unterkunft und erfreute mich die Zimmer, Bäder und das Essen so zu erleben wie es die Bhopal – Gruppe tat. Über ein Bettgestell und eine warme Decke freute ich mich dennoch, weil ich wusste, dass es besser für meinen Rücken ist und ich nachts nicht frieren werde.
Unser erster Workshop Tag verlief sehr positiv. Ich freute mich sehr auf die folgende Projekttage und war animiert mich mit voller Freude auf die Gruppe einzulassen. Auch die Gruppe spiegelte dies in einer offenen gemeinschaftlichen Abendrunde wider. Es zeigte sich schnell, dass Vinod und Abhishek bereits intensiv mit den Jugendlichen gearbeitet hatten. Die ersten Tage verliefen für mich sehr kurzweilig und ich hatte das Gefühl, schnell in der Gruppe angekommen zu sein.
Geweckt wurden wir regelmäßig von indischer Musik, Handy Sounds oder dem lauten Ausspülen des Rachenraumes in der täglichen Morgenroutine der Inder. Diese
versammelten sich zu früher Stunde gleich neben unserem Raum, um zu duschen. Die ersten Tage starteten wir täglich um 10 Uhr mit einem Bollywood Tanz als warm – up. Ich hatte großen Spaß am
Tanzen und es war eine gute Gelegenheit in die Gruppe zu finden.
Auch die Morgenrunden verliefen offen und gesprächig im gemeinsamen Austausch und ich hatte das Gefühl, dass wir ohne lange Anlaufzeit die Dinge freiheraus miteinander teilen konnten. Der Workshop am Vormittag war für mich gerade am Anfang sehr besonders. Durch die Spielaufgaben fand ich schnell einen Kontakt zu der Gruppe und zu den einzelnen Spieler*innen, sowie zu meinem neuen Umfeld. Durch vielfältige Spielaufgaben wie Indiaka, Gefühlsübungen und Raumlauf, konnte ich gut in den Gruppenprozess eintauchen. Beim immer wieder abwechslungsreichen Raumlauf, wo wir mal Hai, mal Fischschwarm, mal Wasserflasche mal Jelabi (eine indische Süßigkeit) anspielten, konnte man schnell eine emotionale und spielerische Verbindung zu den Teilnehmer*innen aufbauen. Mal die pure Freude die man mit allen zu teilen vermag, mal die pure Verzweiflung und die Ungerechtigkeit. Die Gruppenenergie, so hatte ich das Gefühl, war mitreißend und ich konnte sie einsaugen. Auch die täglich kurzen Meditationen verankerten mich an den Ort und ich lernte Einiges übers Meditieren dazu. Bei der Meditation spürte ich die warme indische Luft und ein Duft aus der Küche kam hinzu. Ich fühlte mich heimisch und wohl an diesem Ort. Nichtsdestotrotz bekam ich visuell nicht viel von der indischen Realität mit. Ebenso die echte Lebensrealität der Teilnehmer*innen, die mir erst später bewusst wurde oder mir ganz fernblieb. Die Vögel zwitscherten und ich hatte das Gefühl man gibt diesen tollen Menschen eine Chance. Einen Samen aus dem einmal ein großer Baum wachsen sollte und all dies nahmen sie war.
Im zweiten Block des Tages wurden szenische Spielaufgaben und Konzeptarbeiten umgesetzt und auf einer kleinen improvisierten Bühne geprobt. Die Spielthemen für die Konzeptaufgaben gaben wir der Gruppe vor ; diese sollten dann kreativ und improvisatorisch umgesetzt werden. An der Planung der Übungen für den kommenden Workshop-Tag saßen wir die Abende zuvor in der Regel bis tief in die Nacht. Es zeigte sich, dass die Gruppe immer wieder gesellschaftspolitische und traditionelle Themen aus ihrer Lebenswelt anspielte. Wir versuchten das kreative Vorstellungsvermögen bei der Gruppe zu stärken und ihnen ein größeres Fantasie-Bewusstsein zu ermöglichen. Die harten Realitätsthemen sollten mit echten Gefühlen zum Ausdruck gebracht und auch in einen humorvollen Rahmen gepackt werden. Der Kern des Stückes, ist aus diesen äußeren Zwängen auszubrechen.
Ein echtes Highlight war ein Treffen mit den Eltern der Spieler*innen gewesen. Einige Eltern folgten unserer Einladung und kamen an unseren Spielort. Wir berichteten von unserer Arbeit und die Gruppe warf sich in schwarze Spielkleidung und trat ein erstes Mal vor größerem Publikum auf. Die Veranstaltung kam gut beim Publikum an und wir waren erleichtert, da es ein großes Spannungsfeld ist, wenn die Jugendlichen sich durch die Teilnahme an unserer Theaterausbildung ihrer familiären Pflichten entziehen. Wenngleich einige Jugendliche traurig waren, dass sie keinen Support von der Familie bekamen. Für mich war es eine große Ehre einige Eltern zu treffen und ich hatte weitere tolle Begegnungen an diesem Tag, plus meinen ersten Tanzauftritt.
Bei einer Konzeptarbeit erlebte ich bei einem eigenen Spielerlebnis meinen persönlichen Tiefpunkt. Es entwickelte sich auf der Bühne ein chaotisches Spiel zusammen mit meiner indischen Spielgruppe. Ich fiel immer wieder aus meiner Rolle heraus, weil ich dem eigenen Schauspiel auf der Bühne nicht folgen konnte und nicht wieder ins Spiel hineinkam. So wirkte ich auf den Zuschauer sicherlich etwas unbeholfen in diesem Augenblick. Auch meinen Mitspielern war die Verwirrung anzusehen. Letztendlich konnte ich über unser Spiel aber schmunzeln und ich merkte schnell, dass sprachliche Barrieren auch eine gewisse Hürde sein können. In einen Gruppenprozess reinzugehen, wo man sich kaum mit seinem Gegenüber auf Englisch verständigen kann, ist nicht immer leicht, aber man findet über eine emotionale Ebene einen Austausch zu den Spieler*innen. Ich hätte gerne etwas mehr spielerische Erfahrungen gemacht, aber es sollte das Stück der Bhopal – Gruppe werden, sie wurden ausgebildet und das war toll!
Die Zeit verging wie im Fluge. Wir verspürten einen gewissen Druck, da wir ja eine Show entwickeln mussten. Die Idee zur Show entwickelten wir in einem Gemeinschaftsprozess mit der Gruppe. Sie zeigten uns immer wieder mitreißende Inszenierungen aus den Spielaufgaben, wobei Gefühle und Technik immer besser verkörpert wurden. So konnten wir schlussendlich die Show formen. Die Show „Mahsus“ (Feel!). Die Geschichte der Show erzählten wir der Gruppe in Form einer Traumreise. Am vorletzten Tag unserer ersten Workshopphase hatten wir den roten Faden einer Show. Natürlich befindet sich die Show in einer ständigen Entwicklung und kann immer wieder ausgearbeitet und weiterentwickelt werden. Wir waren aber glücklich, dass wir unser erstes Ziel erreicht hatten.
In unserem dritten Workshop Block am Abend machten wir häufig Traumreisen oder Partner-Massagen. Für die Massage wurde sich viel Zeit gelassen und die Techniken waren Teil der Ausbildung der Gruppe. An einem Abend erlebte ich einen sehr besonderen Augenblick. Ich konnte mich auf die Massage meines Partners voll und ganz einlassen. Die einfühlsamen Berührungen brachten meinen Körper in einen absoluten Entspannungsmodus. Ich war so abwesend gewesen, dass mein Partner Probleme damit hatte, mich wieder in eine aufrechte Position zu bringen. Als ich in seine Arme fiel, verspürte ich nur noch emotionale Dankbarkeit. Eine echte Seelenverbindung.
Eine gewisse Eingewöhnungszeit brauchte ich, um die Rolle der höheren Stellung als Leiter anzunehmen. Da ich ja sowieso schon ganz andere Privilegien, als alle Menschen die ich in Indien traf, besaß. Das Unterordnen und Annehmen dieser Umstände ist sehr gefestigt in Indiens Kultur. Ein klares hierarchisches Muster, was für mich über eine gutmütige Gastfreundlichkeit hinausging und womit ich so meine persönlichen Auseinandersetzungen hatte.
In meine Rolle als Praktikant hatte ich das Gefühl einige Tage hineinwachsen zu müssen. Ich befand mich in einer Zwischenrolle, da ich Regie und Feedback geben größtenteils Wolfgang und Christian im Workshop überließ. Dennoch musste ich eine gewisse Distanz zu den Teilnehmer*innen einnehmen. Mit der Zeit fand ich immer besser in meine Rolle und konnte diese auch gut füllen.
Eine weitere Herausforderung war für mich sicherlich mit der Ungerechtigkeit und den persönlichen Lebensschicksalen der Teilnehmer*innen zurecht zu kommen. Alle kannten die Umstände und ich lernte sie kennen. Sie teilten ihre Probleme offen mit uns und dies war sicherlich gut, denn es hilft die Dinge anzusprechen. Ich gehe davon aus, dass es auch für die Gruppe nicht immer leicht war aus ihrer Welt heraus eine eurozentrische Lebensweise näher zu erfahren. Raus aus der eigenen Realität. Gemeinsam fanden wir, das sagte mir mein Gefühl, einen guten Weg miteinander und hatten den gemeinsamen Wunsch nach Theater, Tanz und Spaß.
Am letzten Abend saßen wir an einem gemeinsamen Lagerfeuer und einige aus der Gruppe waren sichtlich verängstigt in ihr familiäres Umfeld zurückzukehren. Ein unheimlicher Druck, den ich nicht nach zu empfinden vermochte.
Als Gruppe, davon war ich der festen Überzeugung, konnten wir in den elf Tagen eine Spielentwicklung und einen Zusammenhalt formen. Wir konnten gemeinsam aus unser persönlichen Realität herausbrechen, wenn Abhi am Lagerfeuer die Rätselfragen seines Großvaters erzählte, auf der Bühne fantasievolle Geschichten erzählt wurden oder wir gemeinsam in die Nacht tanzten. Wir konnten über die selben Dinge lachen. Der Abschied von der Gruppe war verkraftbar, da wir uns alle in ein paar Tagen wieder sehen sollten. Der Abschied klang aber gleichzeitig auch nach und ich musste weiterhin viel an die Gruppe und die verbrachte Zeit denken. Bald sollte es weitergehen „Jai Ho“ (deutsch = Auf gehts!) auf zu den „Dreamcatchers“ !
Vielen Dank „Dera Theatre Group“ (Dera = Wanderndes Volk, Nomaden) für euren Glanz. Mögt ihr noch viele Bühnen bespielen und viele Workshops leiten!
Yannik