Es war früh am Morgen, als wir wieder bei unserer Gruppe in Bhopal eintrafen und gemeinsam in die letzte Projektphase starteten. Wir waren bereits seit einigen
Stunden unterwegs. Wir kamen aus Bodhgaya, einer der heiligen Städte des Buddhismus und der Heimatstadt von Creacting India. Hier hatten wir knapp zwei Wochen verbracht und ich hatte mit all
meinen Sinnen Indien erleben dürfen. Unsere Zwischenstation Bodhgaya war ein komplett eigenes Kapitel auf meiner Reise gewesen. Das Bhopal - Projekt war mir nun vertraut und auch andere Teile von
Indien hatte ich jetzt sehen dürfen.
Ich freute mich sehr auf das Wiedersehen mit der Gruppe. Neben Vinod und Abhishek hatten wir diesmal auch die beiden „Dreamcatchers“ Majid und Suraj mit an Bord. Sie unterstützten uns noch einmal in der Endphase des Projektes und hatten bereits einen guten Draht zu der Bhopal -Gruppe. Für die beiden war die Reise mit dem Flugzeug nach Madhya Pradesh etwas ganz Besonderes. Für Suraj war es der erste Flug und er bekam von CreActing etwas Geld für neue Kleidung bereitgestellt.
Unsere Anreise war lang. In Patna, von wo wir über Delhi nach Bhopal fliegen wollten, hatte unser Flieger bereits Verspätung. Das hieß, dass wir unseren
Anschlussflug in Delhi verpassen würden und eine Nacht in Delhi verbringen mussten. Dieselbe Prozedur hatten wir bereits auf unserer Anreise nach Bodhgaya durchgemacht. Den Anschlussflug zu
verpassen bedeutete: Langes Warten am Flughafen und eine Auseinandersetzung mit der Fluggesellschaft Indigo und deren Verantwortlichen. Da ohne Druck von außen die Fluggesellschaft kein Interesse
daran hatte die Kunden durch Transfer und Unterbringung zu entschädigen. Die unermüdliche Beharrlichkeit von Abhishek, Vinod und Wolfgang hatte letztendlich Erfolg und der ungeplante Aufenthalt
wurde für uns etwas erleichtert, dennoch hatten wir einen weiteren nicht eingeplanten Zwischenstopp und eine Anreise mit wenig Schlaf.
Mit ein paar Stunden Schlaf starteten wir direkt ins Projekt. Und gleich mit einem richtigen Highlight für alle. Es ging in einen Wasserpark. Nach einer Schnelltest – Aktion konnte der Spaßtag für alle beginnen. Für viele war es der erste Besuch eines Wasserparks überhaupt. Gemeinsam mit Pallav, unserem Ansprechpartner von Muskaan ging es in zwei prallgefüllten Kleinbussen zum Wasserpark. Es war ein großer Wasserpark weit außerhalb von Bhopal. Am Eingang des Parks wurde vorweg ein Tanz aufgeführt und traditionell eine lange „Foto Session“ gehalten.
Der Park war eine Parallel-Welt, eine Mischung aus luxuriöser Pool-Anlage, Rutschen-Paradies, Palmen und Statuen inmitten indischer Wildnis und Abgeschiedenheit. Nach einem kurzen Abtasten in dieser fremden Umgebung wurde sich reichlich vergnügt. Es wurde im Wellenbad getobt, waghalsige Rutschen getestet und an der Pool-Anlage zu lauter Musik getanzt. Wir hatten großen Spaß miteinander und ich fühlte mich sehr glücklich. Der ganze Park wurde von der Freude angesteckt und auch die Inder werden dieses Erlebnis so schnell nicht vergessen.
Am nächsten Tag starteten wir dann mit dem Workshop Programm und damit unser Stück Bühnen reif zu machen. Wir hatten sechs volle Tage bis zu unserem ersten
Auftritt. Ich war guter Dinge, da wir als Team bereits eine sehr gute Basis geschaffen hatten. Am Ende des ersten Workshops hatten wir bereits alle Rollen verteilt und die komplette Show einmal
Szene für Szene durchgespielt. Nun ging es daran die Szeneabläufe zu vertiefen, Einzelproben einzubauen, mit Kostümen zu spielen und die Technik ums Stück herum zu proben. Wir setzten einen neuen
Tagesplan an, bei dem wir vormittags und abends eine Durchlaufprobe machten, da es jetzt die Mittagshitze nicht anders zuließ.
Der Fokus lag bei allem nun voll auf der Show. Zum Wiedereinstieg ins Theater machten wir am ersten Tag eine gemeinsame Gefühlsübung. Die Übung zeigte, dass die
Gruppe bereits fortgeschritten war und schnell wieder bei voller Spiellaune anlangte. Dann wurde die Show wieder und wieder angespielt, zudem wurden die Tänze vertiefend choreographiert und der
Sprachgesang einstudiert.
Die Show ist gefüllt mit Tanz - Momenten. Neben einem Freundschaftstanz, entwickelten sich weitere Tanztheater – Choreographien, die sich durch das Stück spannen
und es abwechslungsreich machen. Des weiteren wurde ein „Basti“ Song rhythmisch in das Stück integriert, welcher zum Thema des Stückes passte. Das Stück wird abgeschlossen mit einem Bollywood
Tanz, an dem auch ich mit voller Freude mittanzen durfte.
Die Szenen-Abläufe wurden immer weiter vertieft und die Showtage rückten näher. Die Durchlaufprobe gewann an Präsenz und Energie. Ich spürte, die Gruppe gab ihr bestes, Feedbacks direkt ins Spiel umzusetzen und somit nahm die Show immer weiter Form an. Die Kostüme zeigten ihre Wirkung, wobei einige mehr hervorstachen als andere und wir uns bis zum letzten Tag an kreativen Möglichkeiten für eine ästhetische Strahlkraft der Kostüme abarbeiteten. Kostüme in Indien in Auftrag zugeben, wobei man an Ort und Stelle kaum Kontakte parat hat, ist keine leichte Aufgabe, zumal wir ehrlicherweise keinen hochtalentierten Zeichner in unserem Leitungsteam hatten.
Auch Musik und Lichttechnik brachte selbstverständlich Hürden mit sich. Dennoch war es toll zu beobachten, wie zwei hochmotivierte und wissbegierige Jugendliche von
Muskaan uns unterstützten und in einer kurzen Zeit sich alle technischen „Know - how’s“ erarbeiteten, um die Show zu bereichern.
Die zweite Workshopphase war angenehm und mit weniger Druck, da es eine eindeutige Richtung gab und wir uns am Stück orientieren konnten. Während wir in der ersten
Workshopphase Ideen sammeln und kreativitätsfördernde Momente schaffen mussten. Eine Struktur gaben weiterhin Morgen- und Abendrunde, sowie die vielen Durchlaufproben. Die Gruppe arbeitete immer
selbstständiger. In Einzelproben und Tanz Trainings klappte das sehr gut. In einer Probeszene, in der zwei Teilnehmer*innen die Leitung übernahmen, gab es allerdings Diskussionsbedarf. Ich denke
solche Erfahrungen gehören zu einer Ausbildung dazu und gerade das Feedback geben in einer Fortgeschrittenen Gruppe ist eine Herausforderung.
Eine weitere Herausforderung, so zeigte sich, ist das Lernen von Schlüsselsätzen für die Show. Die Schlüsselsätze wurden intensiv geprobt, da sie die inhaltliche Richtung der Show vorgaben. Ansonsten waren die Spieler*innen in ihrer sprachlichen Form frei. Ich konnte nicht garantieren, ob die Schlüsselsätze am Ende auch alle gesprochen wurden und ob der Inhalt der eigenen Show allen voll und ganz bewusst ist, aber ich kann mit Freude versichern, dass ich eine Entwicklung beim Lernen den Sätze beobachtete. Für den Zuschauer, der das Geschehen auf der Bühne in einer fremden Sprache aufmerksam verfolgte, kam der zentrale Inhalt der Show an. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass einzelne Teilnehmer*innen nicht alles verstanden, was sie zum Ausdruck brachten. Dies waren allerdings Ausnahmen in der Gruppe gewesen.
Bei einigen Teilnehmer*innen war eine Konzentrationsschwäche zu beobachten gewesen. Ich versuchte mir dies zu erschließen und kam zu dem Schluss, dass es wohl möglich mit „offline sein“ und Handy Abstinenz zusammen hing. Eine weitere Vermutung war, dass das Einprägen von Sätzen dadurch erschwert wurde, dass einige der Teilnehmer*innen nicht lesen oder schreiben können, woraus die Konzentrationsschwäche entstand. Dennoch hatte jeder der Teilnehmer*innen seinen Moment in der Show und das war toll!
Durch das selbstständige Arbeiten der Gruppe, hatte auch ich mehr Freiräume. Diese nutzte ich zum Beispiel, um mit Christian ein Buch für die Gruppe fertig zu stellen. Mit dem Buch „Theatre act brief overview„ nach der Methode act, kann die Gruppe auch nach Abschluss der Theaterausbildung in Muskaan und in ihren Slums weiterarbeiten und Workshops geben. Des weiteren wurden Poster und Zertifikat für den Projektabschluss erstellt.
Insbesondere die Abendaufführungen brachten eine besondere Atmosphäre an den Spielort und vereinzelt mischten sich auch gebannte Zuschauer unter unsere Gruppe.
Unsere neue Bühne aus Spannseilen, sowie schwarzen und weißen Vorhängen, die nun in farbiges Licht getaucht wurden, gab ein tolles Bild ab.
Die erste Aufführung der „Dera Theatre Group“ war gleichzeitig die letzte Aufführung für Wolfgang, Christian und mich. Am Aufführungstag konnten wir mit Karaoke
nochmal etwas abschalten. Wir verspürten alle eine gesunde Anspannung. Später wurde mit reichlich Torte ein Geburtstagsgruß an Wolfgangs Tochter geschickt und alle waren bei bester
Laune.
Am Nachmittag ging es für alle gemeinsam zum ersten Aufführungsort. Das Gebäude der Muskaan Organisation ist ein sogenanntes „mud house“ aus Lehm und Kuhmist. Der
große Bau wurde in einer beeindruckenden künstlerischen Art und Weise errichtet. Ein prächtiger Spielort. Trotz alledem hat die aufreibende gemeinnützige Arbeit der NGO ihre Spuren hinterlassen.
Denn die NGO hat immer wieder mit der Verwaltung zu kämpfen, ihre sozialen Tätigkeiten durchzubringen und den Menschen aus den „Bastis“ eine Perspektive zu ermöglichen.
Am Spielort wurde ich überschwemmt mit Eindrücken. Ich zog eine große Aufmerksamkeit bei der Ansammlung an Kindern und Jugendlichen auf mich. Ich führte „small
Talk“ Gespräche, bekam berührende und erschütternde Lebensgeschichten zu Ohr, verschaffte mir einen Überblick vom Spielort, an dem gleichzeitig auch viele Kinder und Jugendlichen lebten. Die
Gruppe versuchte sich ihren Spielort einzurichten und provisorisch einen Vorhang zu montieren. Ich verlor bei dem Chaos für einige Zeit etwas den Überblick. Ich war froh meine Gruppe um mich zu
haben.
Als ganze Gruppe sammelten wir in einem gemeinsamen Warm – up, bereits vor den Augen vieler Zuschauer, die volle Energie für die Show. Das Zusammenhaltgefühl war
spürbar und verteilte sich bis auf die Matten des Publikums. Die Dämmerung trat ein und immer mehr Inder kamen zum Platz. Es war eine tolle Atmosphäre. Das Ergebnis einer anderthalb-jährigen
Ausbildung konnte endlich präsentiert werden.
Vor der Show wurde ein weiteres Theaterstück von Jugendlichen der Muskaan Organisation aufgeführt. Es war bereits dunkel und unsere Spieler*innen nahmen erst mal im Publikum Platz. Das andere Stück war fesselnd und schockierend zugleich. Es thematisierte die Ungerechtigkeit, mit der die Inder in ihrer Lebensrealität konfrontiert sind. Das Theater der Unterdrückten. Gewalt, Suizid und Diskriminierung wurden auf der Bühne von jungen Menschen verkörpert, die diesen sozialen Umständen ausgesetzt sind. Das Publikum nahm die Szenerie auf der Bühne gefasst wahr. Einige brachen in Tränen aus, so auch einige unserer Spieler*innen. Sie konnten dieser harten Realität nicht ins Auge blicken. Ich konnte sie gut verstehen und versuchte sie aufzubauen. Eine Lösung für die Probleme, die auf der Bühne gezeigt wurden, gab es nicht. Stattdessen wurde das Publikum gefragt. Das ganze Schauspiel hat mich sehr berührt, auch wenn es schwer zu ertragen war. Es blieb ein Gefühl von Ohnmacht. Ich war froh, dass unser Stück als Programmpunkt folgte, um die Stimmung wieder aufzuhellen und das Publikum lachen zu sehen.
Die Show war ein Spektakel! Gebannt saß ich in der ersten Reihe und sah unsere Spieler, wie sie sich die Seele freispielten. Die Show war eng getaktet und fesselnd.
Hinter mir hörte ich die indische Kulisse in jeder Szene mitfiebern. Das Publikum war mit auf die Theater - Reise aufgesprungen.
Nach Abschluss der gelungenen Show, folgte die Zertifikatsverleihung. Die Gruppe war voller Dankbarkeit und total gerührt über die Auszeichnung zur abgeschlossenen
Theaterausbildung. Ich merkte, dass der symbolische Wert eines eigenen Zertifikats für alle sehr große Bedeutung hatte und die Gruppe ließ sich zurecht auf der Bühne dafür feiern.
Die Verabschiedung von der Gruppe war für mich hart und kam unbewusst plötzlich. Die Abendrunde ging bis tief in die Nacht. Einige aus der Gruppe nickten während
der Runde ein, weil sie so ausgelaugt von dem Tag waren und alles gegeben hatten. Dennoch wurde allen die Zeit gegeben, abschließende Worte zu finden. Dankbarkeit und Tränen flossen. Das Gefühl,
dass wir eine geschlossene Gemeinschaft waren überkam mich erneut. Ich verließ den Ort mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Ich war emotional sehr zerrissen an diesem letzten Tag. Ich hatte soviel gelernt auf dieser Reise. Ich hatte mich mit niemanden auf der Reise gestritten, viele neue Freunde gewonnen und unvergessliche Momente erlebt, die ich für immer im Herzen tragen werde. Danke Creacting Germany, Danke Creacting India und Danke „Dera Theatre Groupe“! „Jai ho“!