Blog vom Indienprojekt 2014 von unserer 19-jährigen Praktikantin Annika:
Mi
05
Mär
2014
Das hier wird ein kurzer Eintrag, weil ich gerade im Hotelzimmer in Delhi sitze (eigentlich packen sollte...) und wir morgen früh wieder nach Hause fliegen. Nach Hause. Irgendwie glaube ich, je mehr Menschen an verschiedenen Orten ich treffe, dass das gar nichts mit einem bestimmten Ort zu tun hat, sondern einem Gefühl. Oder vielen Gefühlen. Die müssen nicht immer nur gut sein, das wäre ja auch irgendwie langweilig... auf jeden Fall kann man bestimmt viele Zuhause haben. Und ich denke mir, dass Bodhgaya bestimmt eines für mich werden könnte, falls ich wiederkommen würde. Und das halte ich für eine tolle Erkenntnis. :-)
In den Workshops haben wir eine Show auf die Beine gestellt, die wir dreimal gespielt haben: “Starlight Saraswati and the eternal chai”. Es geht um das sehr reale Problem von Plastik, das hier wirklich überall herumliegt oder verbrannt wird, Umweltverschmutzung, den Glauben an die Götter... Indien.
Das ist es, was ich toll daran finde, was mich begeistert. Die Leute, die die Show sehen und irgendetwas wiedererkennen, es ist nichts, das wir einfach in unseren (wenn auch sehr vielen) Koffern aus Deutschland mitgebracht haben.
Die Aliens bringen sie zum Lachen, den Chai-Wallah lieben sie und die Müllmonster... machen ihnen vielleicht nicht wirklich Angst, aber toll sind sie trotzdem.
Die Kinder, deren Augen leuchten, sowohl vor der Show, als auch währenddessen und danach, wenn sie sich verbeugen und Applaus hören, Obwohl das Indien eigentlich nicht so üblich ist.
Die Jungs der letzten Jahre, die sich bei jeder Show etwas neues einfallen lassen, improvisieren und Spaß haben.
Die Mädchen, die auf der Bühne aufdrehen, obwohl sie sich sonst nichts trauen.
Außerdem haben wir noch Aufnahmen für einen Doku-Film gemacht, was jedes Mal ein richtiges Abenteuer war: Alle Kinder in die Rikscha packen, Kostüme hinten rein und zum Beispiel zu einer alten Ziegelsteinfabrik fahren und dort Szenen drehen. Toll und ziemlich befremdend gleichzeitig, weil hier bis vor einiger Zeit noch Kinder gearbeitet haben. Und jetzt sind wir da und spielen und halb Bodhgaya kommt angelaufen, um zuzuschauen.
Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vorbeigeht und wie anders jetzt alles ist. Ich laufe durch Delhi und fühle mich nicht mehr so wie vor sechs Wochen. Ich vermisse Bodhgaya jetzt schon ein bisschen und habe so viel gelernt und so viele Menschen getroffen, die ich toll finde. Für mich gibt es in Indien jetzt keine Inder mehr, sondern Jungs und Mädchen und Erwachsene, mit denen mit denen mich etwas verbindet.
Jetzt ist der Vorhang, der immer eine neue Welt öffnet, in Indien schon fast wieder zu... für dieses Jahr.
Eines steht fest – es geht weiter. Dieses Jahr sind ganz neue Pläne entstanden – um zum Beispiel ehemalige “Theater-Kinder” bei ihrer Ausbildung zu unterstützen, können sie in ihrer freien Zeit Theaterworkshops halten und sich ihr Taschengeld mit Theater verdienen! So geht das Projekt in Bodhgaya bestenfalls das ganze Jahr weiter, wird größer, weiter, man gewinnt vielleicht neue Leute... und das klingt doch schon einmal sehr gut und nach einer absolut positiven Entwicklung.
“Indien hat sich um dich bemüht.” - diesen Satz bleibt mir im Gedächtnis.
Es stimmt – ich hatte so viel Glück hier, habe so viele spannende Menschen getroffen und hatte das Privileg, mich mit ihnen über alles mögliche austauschen zu dürfen, offen, nach dem Motto “Not better, not worse, just different”. Ich habe viel gelernt – damit meine ich aber nicht nur, wie man eine Lichtanlage bedient, während einer Show die Musik macht... oder am schnellsten 23 Kindern Samosas austeilt :-) sondern auch so viel über Zusammenarbeit, Gruppen, kulturelle Unterschiede zu schätzen oder einfach mal zu vergessen, sich auch ohne Sprache zu verstehen und, und, und... wahrscheinlich wird mir das alles erst klar, wenn ich mal groß und weise bin.
Auf jeden Fall war es eine sehr besondere Zeit, mir bleibt nur noch zu sagen “Curtain...down!”... so wie wir es am Ende mit allen Kindern gemacht haben, nachdem jeder ein Zertifikat und Geschenke bekommen hat und wir zum letzten Mal im Kreis gesessen sind.
Do
20
Feb
2014
Es ist viel passiert in Bodhgaya, Indien.
Nicht nur wegen der Sprachbarriere (eigentlich ist es keine Barriere, sondern ziemlich interessant und eine gute Möglichkeit für einen Gesprächsbeginn) ... geht es für mich zurzeit viel um das Verstehen.
Menschen verstehen, die anders denken, die Traditionen verstehen, die Armut verstehen. Samjna.
Verstehen heißt nicht nur, Hindi verstehen. Ein Beispiel?
Ich hab mal wieder meine Schuhe verloren, hier im Guesthouse. Schwarze Billig-Flip Flops vom Markt hier, die einzigen, die mir passen, da ich im Vergleich zu den Inderinnen anscheinend
Elefantenfüße habe. Ich suche überall danach, kann sie aber nicht finden und frage alle, keiner hat sie gesehen. Bis schließlich einer der Jungs, die hier arbeiten, sie mit sich herumträgt und
irgendwo abstellt. Flip Flops heißen hier nämlich “Slipper” und nicht Schuhe. Es sind einfach keine Schuhe, so die Meinung einiger Inder.
Ein weiteres Beispiel für eine Situation, in der das Verstädnisproblem nicht unbedingt bei Hindi lag: Wir sollen einen Workshop in einer Schule halten, natürlich ist die Zeit und alles weitere it dem Direktor ausgemacht. Als wir ankommen, stehen wir vor der Tür und vor einem großen Schloss. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Schülern oder Lehrern. Warum? Irgendwie fragen wir uns das gar nicht. Dann aber kommt ein Nachbar und organisiert uns einen Lehrer, der dann wiederum klar macht, wann die Schüler kommen. Eine Stunde später sind alle da. Sowas mag ich an Indien. :-)
Die Tage hier sind viel kürzer als zu Hause – nicht nur, weil Indien anscheinend um 6 das Licht ausmacht, falls nicht sowieso Stromausfall ist... sondern auch, weil so viel passiert. Denn gleichzeitig sind die Tage hier so, so voll. Voller – geplanter und ungeplanter – Erlebnisse, Momente, Überraschungen, mit denen man erst einmal fertig werden muss, wackeliger Rikschafahrten,... und vor allem – vollere Kinder.
Wir sind gerade mitten in den Workshops. Nach den einzelnen in den verschiedenen Schulen sind jetzt die Wochenendworkshops dran, bei denen endlich alle zusammen sind.
Bestimmt beschreiben es die Bilder wieder besser, als ein Text das könnte. Das sind so viele, die passen zwar nicht auf einen Stick, aber in meinem Kopf sind sie die ganze Zeit. Weil da die Kinder drauf sind und man Kinder so schnell gern haben kann. Jeder einzelne von ihnen ist so anders, was man hier vielleicht vergessen könnte, weil man die meisten immer nur in großen Gruppen sieht. Und bei jedem der Jungs und Mädchen frage ich mich, welche Geschichte hinter den oft so strahlenden Gesichtern ist.
“Wir” - das ist jetzt nicht mehr nur unser Team. Wir – da sind jetzt noch 23 Kinder dazugekommen.
Ich schaffe es gerade, die Namen zu lernen. Wir machen schon den zweiten Wochenedworkshop und endlich steht die Gruppe. Ein paar Mädchen durften nicht mitmachen, weil sie nach der Dunkelheit nicht mehr rausdürfen.
Gerade sitzt Suratj neben mir. Er fragt, was ich mache und ich erkläre es ihm. Natürlich kann er kein Deutsch lesen, also habe ich gerade “Hello, how are you?” eingetippt. Vorhin habe ich mit der kleinen Nikki zusammen Monster gespielt, weil sie alleine nicht wollte oder konnte.
Oder: Erster Workshoptag, es sind noch ca. 30 Kinder, wir stehen alle draußen im Kreis und rufen “Jai Ho!” und werfen die Arme in die Luft.
Solche Momente sind toll.
Es ist spannend, zu sehen, wie sich Gruppen bilden, was es dabei für Probleme und Erfolge gibt. Die Mädchen haben schnell zusammengefunden, die Jungs genauso, obwohl sie wirklich alle aus ganz verschiedenen Umfeldern kommen. Mädchen und Jungs zu mischen, scheint aber hier sehr schwierig zu sein. Das macht hier niemand, auf die Idee würde man nicht kommen. Also müssen sie erst einmal zueinander finden... was nicht leicht ist, wenn man immer einen Sicherheitsabstand einhalten muss.
Für die Show gibt es schon einen Plan, sogar schon fertige Szenen. Es geht um vieles, das, hier auch Realität ist. Und wie wir das alles verstehen – genau so wie die Kinder.
Sa
08
Feb
2014
“And when it comes to the untouchables I went from door to door and many Indian people didn't want to help any of them – they thought that the
situation of the Untouchables is their own fault, because they had bad karma in their old life and deserve it. So why do anything to help them?
Then I say: If you don't do something now, if you never think of the people who need help – what do you think will happen to your karma?”
(Siddharta Kumar, Besitzer unseres Guesthouses und Initiator sozialer Projekte in Bodhgaya)
... Über so etwas muss ich zur Zeit viel nachdenken. Das Kasten. Die unsichtbaren Grenzen, die die Inder aber immer vor sich sehen. Die “Unberührbaren”. Ich bekomme mit, dass zwei Menschen aus
verschiedenen Kasten nicht heiraten dürfen.
Ich glaube, dass es schwer ist, das aus unserer Sicht zu verstehen und unmöglich, die Menschen zu beurteilen – was ich sehe ist nur, dass die “unberührbaren” Kinder, die wir in der Schule
treffen, ganz normale schüchterne, aufgedrehte, fröhliche, traurige Kinder sind. Kinder wie alle anderen... und von dem Film (die Geschichte der Monddiebe), den wir ihnen gezeigt haben waren sie
bestimmt nicht ganz unberührt – jedenfalls ihrem Lachen nach zu urteilen. :-)
In Schulen und so richtig indischen Dörfern zeigen wir die “Monddiebe”; den Impro-Film, der letztes Jahr gedreht wurde. Es ist ein richtiges Kino dort, zwischen den Lehmhütten und Palmen.
Orte, Menschen, Rikschafahrten. Alles anders. Gestern war ich auf meinem ersten indischen Fest. Es war eine Party für ein neugeborenes Kind. Ich hab es mit Reiskörnern beworfen.
Während ich das hier alles in das tibetische Notizbuch schreibe, sehe ich, dass ein paar Seiten davor – teilweise unleserlich, teilweise auf Hindi, was ich nicht verstehe – viele Namen stehen. Und das Gekrakel freut mich riesig. Es sind nämlich die Namen der Kinder, die sich in einer der Schulen mit denen wir arbeiten, eingetragen haben, um um bei einem Workshop mitzumachen... und so ist mein Notizbuch voll mit Namen von neugierigen indischen Kindern. (DIe fast alle den selben Nachnamen zu haben scheinen.)
Die Schulbesuche haben aber meistens einen sehr schalen Beigeschmack – von absoluter Disziplin und Distanz, teilweise auch Angst – so kommt mir das Verhältnis zu den Lehrern vor. Es ist
unheimlich, wenn der Lehrer sie irgendetwas fragt und sie immer im perfekten Chor mit einem genau so überzeugten wie unüberlegten “YES!” antworten.
Und dann kommen wir und fragen sie nach dem Workshop nach ihrer eigenen Meinung, was ihnen gut gefallen hat, und was sie gerne (anders) machen würden.
Aber die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kindern, die Workshops machen Spaß und inspirieren. Mich jedenfalls. Die Kinder aber auch, denke ich... weil beim Spielen, da ist es anders.
Was? Alles! Das ist so ein bisschen magisch und lässt sich schwer beschreiben. Zum Glück haben wir ca. 1000 Bilder gemacht!
Am Anfang sind vor allem die Mädchen höflich, freundlich und verschüchtert. Wovon? Von ihren Lehrern, Vätern, dem System, der Gesellschaft?!
Egal. Oder eigentlich nicht – aber wir spielen jetzt erst einmal Tiere, um das zu ändern. Ganz von allein verwandeln sich die kleinen Mädchen und Jungs in Schlangen, Hunde, Kühe und irgendein Tier, das auf dem Boden kriecht und den Kopf gesenkt hat. Das muss irgendwas indisches sein.
Als wir ihnen aber erklären, dass wir jetzt mit verschiedenen Grundgefühlen anfangen, kommt eine ernüchternde Antwort auf die Frage, welche Gefühle man denn so darstellen kann. Sie sagen nämlich
alle nur “happy”. Und bestimmt nicht, weil alle Inder immer nur glücklich sind.
Dann kommen aber doch wütende, gefährliche, ängstliche und todtraurige Tiere über die Bühne gehüpft, gekrochen und geschlängelt. Die Kinder haben einen tollen Ausdruck, wenn sie einfach spielen und nichts kontrollieren.
Ein superschöner Moment ist die Workshop-Pause, in der die Mädchen versuchen, mir ein indisches Spiel beizubringen. Natürlich sprechen sie kein Englisch und ich nur eineinhalb Worte Hindi, was das Ganze etwas schwierig macht.
Nach zehn Minuten kommen wir aber darauf, dass es “Der Fuchs geht um” auf Hindi ist! Das hab ich meine ganze Kindheit lang gespielt.
Irgendetwas verbindet uns wohl doch alle.
Mo
03
Feb
2014
Im Februar 2014 sind wir wieder vor Ort in Bodhgaya. Diesmal mit live Berichterstattung von Annika, unserer frischgebackenen Praktikantin, die hier im Blog von Indien, Theaterprojekten und sich selbst erzählt. Los geht's!
Namaste! - Ankommen
Ankommen, ankommen, ankommen.
Ich glaube, ich könnte 6 Wochen lang nur ankommen - so viel neues gibt es in Indien zu sehen, zu entdecken, zu riechen, zu fühlen, zu lernen.
Ich - das heißt Annika. Ich bin gerade 19 Jahre alt geworden und war noch nie außerhalb von Europa. Indien kannte ich bisher von meiner Leucht-Globus-Nachttischlampe und das Exostischste, was ich
bisher erlebt habe, war die Reise nach Australien... als meine Mutter mit mir schwanger war... Bis ich vor ungefähr einem halben Jahr im Internet zufällig auf "creacting" und das Team dahinter
gestoßen bin. Die ganze Nacht lang habe ich mir Website und Bilder angeschaut.
Und jetzt bin ich dabei - hier in Bodhgaya. Bihar. Indien.
Über die Theaterworkshops mit den Kindern kann ich noch nicht viel schreiben, da wir Montag den ersten machen. Dafür aber schon ein bisschen über Indien.
Indien ist so vieles -
so ohrenbetäubend laut und andächtig still, so dreckig und kaputt, schön und bunt. Nur eines von beidem und trotzdem alles gleichzeitig.
Im Tempel lächeln uns die Leute an - Namaste, namaste! - auf der Straße ziehen die Bettler an uns, lassen mich nicht mehr los - mehr mit Blicken als mit Händen. Dann weiß ich nicht, was ich tun
soll. Wegschauen kommt mir falsch vor - noch falscher aber, ihnen in die Augen zu sehen und nicht allen etwas geben zu können. Es leben so viele Menschen auf der Straße, nicht alle sehen
unglücklich aus, viele schon. Überall versucht jeder, alles zu verkaufen.
Indien ist anstrengend, weil mich viel mehr auf irgendeine (ob positive oder negative) Art berührt, als wenn ich in Deutschland durch die Straßen laufe.
Das Highlight: Zum ersten Mal die Kinder in der Schule sehen, die letztes Jahr schon Theater gespielt haben. Wir bekommen sofort Blumenkränze umgehängt, iher Augen leuchten und jeder sagt, dass
er "ready" ist.
Ich bin so gespannt, was von und aus ihnen noch kommt, welche Ideen sie haben, was sie können und wollen. Wir treffen auch Kinder aus dem Dorf und es ist so deutlich, was das Theaterspielen bei
den anderen schon bewirkt hat.
Die Dorfkinder beobachten uns (... Beobachtet werden. Auch so ein Gefühl, das ich hier oft habe.) und wagen sich schließlich ein Stück näher zu uns hin - und ziehen sich wieder zurück. Ich kann
sie verstehen. Aber ein Kontakt ist da, es interessiert sie, was die Leute mit den lustigen bunten Jongliertüchern machen und das ist bestimmt ein Anfang.
"Do one thing everyday that scares you." - Hier passt das auf die Kinder und mich.
Wir planen verschiedene Workshops mit Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Schülern, Lehrern. Am Ende gibt es dann Aufführungen und eine Tournee. Sich überwinden, Kontakt aufbauen,
sich kennenlernen - all das gibt es hier in Indien im Schnelldurchlauf.
"Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie (... und hier auch die der Spielenden) zu ändern
vermag."
(Frei nach Berthold Brecht)
Wir sind auch "ready"!