Mo
02
Mär
2015
Indien – brodelnder Kessel
Tausendfarbiger Smog
Kleines Dorf
Hinter den Feldern
Raubst mir den Abend
Schenkst mir den Tag und die Nacht
Und so viel mehr Neues, Altes, Anderes
FARBEN, DIE UNS UMGEBEN:
Das Trockenbraun des Flußbetts, wieder, das grün, wenn ich aus
dem Fenster schaue.
Das orangerot der Mönchskleidung, überall. Nebelweiß der Nacht, Vodafone-Rot, lehmfarben. das gelb, grün, pink und rot der leuchtenden Holi colours. Chai-braun, Koriander-grün, Reis-Weiß .bunte
Gebetsfahnen. Vor allem: das Schwarz leuchtender Kinderaugen
Suprabat, Deutschland. Hier ist es nämlich acht Uhr morgens. Bei euch ist es ein paar Stunden früher, bei uns
aber schon richtig warm.
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich weit weg und wieder da
gleichzeitig – weit weg von zuhause. Pause von der Uni, Pause vom Studentenleben. Wieder die „Play“-Taste der Indien-Kassette drücken. Sie funktioniert noch, sie hängt nicht, sie klingt im
gleichen Ton. Beim Theaterworkshop würde man jetzt eine Collage der verschiedenen Indien-Klänge machen, aber für mich sind es zu viele. Das Lied des Tempels, der Verkehr, rufende, lachende
Kinder, Bollywood-Musik von allen Seiten und zu jeder Tageszeit. Das Geräusch, das entsteht, wenn man Chai von ganz weit oben in ein Glas schüttet. Hundegeheul, nachts.
Es ist alles wie vor einem Jahr und alles ganz anders, aber es fühlt sich toll an, wieder (!) irgendwo zu sein. Die Menschen wiederzusehen, die ich kennengelernt habe. Freundschaften entstehen
hier schnell, aber das heißt nicht, dass sie nicht auch echt sind und halten. In Deutschland mache ich mir Sorgen, dass mich jemand in den sechs Wochen vergessen könnte – hier ist es nach einem
Jahr noch so wie davor. Und allen geht es gut, alle sind gewachsen, haben sich verändert, haben neue Probleme und Ideen und Frisuren. Die Sidecuts sehen übrigens gleich aus wie in
Deutschland.
Ich hüpfe durch die Straßen und fühle mich so wohl und sicher. Das Angestarrt-Werden kommt mir nicht mehr seltsam und beunruhigend vor. Wenn ich auf dem Markt spontan umfallen würde, wären
innerhalb von drei Minuten alle anderen Deutschen in Bodhgaya informiert. „We all know you.
Although you don’t know us. We see you.“ Sagte mit vor ein paar Tagen ein Verkäufer. Und
ich glaube nicht nur, dass das daran liegt, dass wir sehr viele sehr blonde Menschen sind. Sondern einfach… weil man hier die Menschen manchmal einfach mehr sieht. Am Anfang hab ich vor dem
Tempel Wolfgang verloren, weil der Rikschafahrer noch einen Parkplatz suchen musste. Der sich auch nur als Verkehrslücke auf der Straße herausgestellt hat. Als ich am Chaishop ankam - kein Wolfgang. Allerdings brauchte es nur ein Wort vom Rikschafahrer, der wohl nach Wolfgang gefragt hat und alle zwanzig
Inder um uns herum zeigten in Richtung des Handyladens. Wo er auch war.
Aber obwohl ich mein Hindi mittlerweile von fünf auf zehn Wörter gesteigert habe (Na gut -, die Hälfte davon sind Zahlen) bleibt es bei Indisch für Anfänger und noch nicht für Fortgeschrittene –
weil es jeden Tag immer noch Dinge gibt, die mich nachdenken lassen, die mich packen, die mich oft auch fertig machen. Manchmal weniger, manchmal mehr. In Kalkutta bin ich Laufrikscha gefahren –
falls jemand nicht wissen sollte, was das ist – es ist eine Rikscha, bei der man auf einem Gestell sitzt, während man von jemand anderem gezogen wird. Ich wollte nur abspringen, es kam mir so
falsch vor, über jemandem zu sitzen, sein Gesicht nicht zu sehen, nur seinen Rücken, gebückt. Natürlich weiß ich, dass man damit jemandem Arbeit gibt und dass er das sowieso den ganzen Tag macht.
Trotzdem. Ob das jetzt mit der Geschichte zu tun hat oder mit etwas anderem – selten habe ich mich so fehl an irgendeinem Platz gefühlt.
Und dann, dann passieren noch Dinge, die nur in Indien
passieren, oder nur mit Indern oder vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich daran glaube.
Letztes Jahr hatten wir eine Aufführung im Shiva-Tempel, von dem wir begeistert waren – dieses Jahr dürfen wir ihn als Workshop-Platz verwenden, außerdem dürfen wir in einem Tempel mit Blick auf
den Mahabodhi Tempel spielen. In Deutschland haben wir darüber nachgedacht, Umwelt zu einem Thema der diesjährigen Workshops zu machen letzte Woche hat Siddhartha, der Besitzer unseres Guesthouses und Initiator sozialer Projekte in Bodhgaya, uns sein Forresting Project gezeigt, bei dem es darum
geht, neue Bäume zu pflanzen, mit dem Ziel, dort eine Naturschule entstehen zu lassen. Unter den Bäumen haben wir schon zwei Workshops gemacht. Wir können mit einem Elefanten zusammen Theater
spielen, den wir letztes Jahr immer besucht haben und dem es so schlecht ging. Jetzt gibt es nämlich ein neues Elefantenschutzprojekt hier. „Das ist Indien“ könnte man sagen.
Deshalb ist der Elefantenrüssel, der sich neugierig in die Kamera streckt, das Bild des Tages.
Ragni, das Elefantenmädchen, ist übrigens schwanger. Alles geht weiter, es wird größer, mehr. Laskman, der früher Schüler der AO Zora Schule war, ist jetzt ein richtiger Assistent. Wir machen
dieses Jahr viele verschiedene Workshops mit vielen verschiedenen Menschen. Zum Beispiel Erwachsenen, Lehrern oder 300 Kindern auf einmal. Wie das funktioniert? Gute Frage. Aber es geht. Und es
ist laut und es macht Spaß.
Natürlich wird es auch wieder eine Show geben, mit zwei verschiedenen Gruppen. Wie genau das aussehen wird, ist noch nicht klar. Aber zu sagen, ich wäre optimistisch, wäre wahrscheinlich
untertrieben. Unser indisch-deutsches Team ist gewachsen und motiviert und wir haben schon eine Rikscha für den ganzen Monat.
Auf der Brücke über dem Flußbett demonstrieren die Dorfbewohner gegen die schlechte Stromversorgung und hier geht schon wieder das Licht aus. Anstatt zur Demo zu gehen, klapp ich aber den Laptop
zu und schaue in den Sternenhimmel. What to do.
Annika Weber